Ein Philanthrop
Was bleibt zurück im großen Sieb, durch das die vielen Jahre mit den vielen Begegnungen und Erlebnissen gegangen sind?
Was ist in mir haften geblieben, wenn ich an Harry Böseke denke, den ich seit meinem Dienstantritt als Dozent für Kulturpolitik und politische Philosophie in der Theodor-Heuss-Akademie zu Niederseßmar kenne, das war im Januar 1979?
Als Jahrgang 1950 gehört Harry, wie ich auch, in die Gruppe der frühen Nachkriegsjahrgänge. Aus der empirischen Sozialpsychologie wissen wir heute, das die Jahrgangskohorte der zwischen 1945 und 1950 Geborenen Deutschen diejenige ist, die am tiefsten und nachhaltigsten von den Gedanken der 68er-Bewegung geprägt worden ist.
Harry war also ein 68er von Geburt und Gesinnung.
Und als 68er stand man in vielfacher Opposition zum Status quo der herrschenden Verhältnisse. Man war antifaschistisch, man war antikapitalistisch, man war anitautoritär. Man glaubte nicht einer entwickelten Volksherrschaft zu leben, sondern in einer kapitalistisch rudimentierten Demokratie mit einem nicht verwirklichten Grundgesetz.
Das Dagegensein adelte den kritischen und progressiven Geist. Wer dafür war, galt als toter Fisch. Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom.
Achtundsechziger waren marxistisch geschult und dialektisch geschickt. Man suchte die Provokation im Protest; man gab sich unerbittlich und besserwisserisch; manche glänzten durch Ironie und Arroganz.
Und dann war da Harry. Der war ganz anders, ein ganz anderer 68er. Er kam ja auch nicht aus der akademischen Blase. – Harry war freundlich, Harrry war zugewandt, Harry war mehr kooperativ als konfrontativ. Er ließ andere Meinungen gelten, während die Genossen wollten, dass sie gar nicht erst ausgesprochen werden sollten.
Manchmal dachte ich bei mir, für einen Linksradikalen ist der Harry viel zu nachsichtig, viel zu sanft.
Dann wiederum bewunderte ich seinen Langmut, seine Geduld. Nie habe ich erlebt, dass Harry aus der Haut gefahren ist und so wütend wurde, dass er sich nicht mehr im Griff hatte. Da war meine Zündschnur kürzer.
Im Studium hatte ich öfter mit dem Begriff des „aktiven Zuhörens“ zu tun, ohne ihn wirklich zu begreifen. Erst bei Harry lernte ich, so wie er sich in Gesprächen verbal und körpersprachlich gab, dass aktives Zuhören anteilnehmendes Antworten ist. – Es wurde mir eine Lehre fürs Leben.
Ein 68er, ein Linker, ein Antifaschist, ein Pazifist, wie immer die Kategorien auch heißen, mit denen wir uns schubladisieren. Harry war noch etwas anderes und mehr: Harry war ein Philantrop, ein Menschenfreund.
Als solcher bleibt er mir in ewiger Erinnerung.
Uns beide verband besonders die Literatur und das Schreiben. Wir organisierten und bestritten Lesungen, gaben 1992 das Oberbergische Lesebuch heraus („Herzenswärme und Widerspruchsgeist“) und Harry machte aus meinen Fußballsatiren die Tonkassette „Lattek sagt“, zu der Zachze die Geräuschkulisse beisteuerte. Eine Lesung fand in der schweißgeschwängerten Umkleidekabine des VfR Wipperfürth statt, wo Udo Lattek in seiner Frühzeit als Spieler und Trainer gewirkt hatte.
Ganz selten, dass wir uns privat und zu Hause trafen, meistens war es „dienstlich“.
Lebhaft in Erinnerung ist mir ein Abend in meiner Wohnung oben auf dem Niedersessmarer Hügel. Ich legte Degenhardt auf und bald stellte sich heraus, dass Harry den Rudi Schulte und die Natascha Beckenbach genauso mochte wie ich. Das schweisst zusammen.
Bei Tonio Schiavo kannte ich einen Teil des Textes auswendig und sang ihn unbegabt mit.
„Er schaffte und schaffte für zehn auf dem Bau.
Und dann kam das Richtfest und alle waren blau.
Der Polier nannte ihn Itakersau.
Das hört er nicht gerne – im Paradies“
Und das liegt irgendwo bei Herne“
Harry revanchierte sich beim Song
Kommt an den Tisch unter Pflaumenbäumen:
„Also kommt an den Tisch unter Pflaumenbäumen
Der Hammel ist gar über’m Lauch
Paprika soll uns im Halse brennen
Der reife Kartoffelschnaps auch“
Kartoffelschnaps tranken wir nicht, aber den roten Wein im schwarzen Krug.
Da wir beide keine guten Trinker waren – das sollte sich später ändern -, hatten wir schnell einen sitzen, was unsere gute Stimmung nur noch besser machte.
Klaus Hansen